Geschrieben von Oliver Heberling
Open Flair Festival Eschwege // 6.-12.08.2019. Der Festivalsommer ist für viele Menschen die schönste Zeit des Jahres. Die Gründe dafür, ein Festival zu besuchen können dabei sehr unterschiedlich ausfallen: Die meisten davon bewegen sich zwischen der Möglichkeit, viele geliebte Bands für vergleichsweise kleines Geld zu sehen und dem Eskapismus, sich eine Woche lang gemeinsam mit seinen Freunden treiben zu lassen und auf dem Campingplatz in den Tag hineinzuleben. Das OPEN FLAIR FESTIVAL hat dabei für mich eine Ausnahmestellung erreicht. Seit ich 2013 das erste Mal nach Eschwege fuhr, weil ein Kommilitone ein überschüssiges Ticket zu vergeben hatte, und dort meine aktuelle Freundin kennenlernte, bin ich bisher jedes Jahr zum FLAIR gefahren. Das Festival ist ein Ort der Heimkehr geworden. Man trifft Freunde und Bekannte, die man das ganze Jahr selten bis gar nicht gesehen hat, lernt stets neue Menschen kennen, freut sich auf das Essen in seinem Stamm-Schnellrestaurant in der Innenstadt und erfreut sich einer Woche abseits jeglicher Verpflichtungen und Termine. Daher war die Stimmung auch dieses Jahr wieder keineswegs getrübt, trotz des persönlich für seit 2014 am Schwächsten befundenen Line-Ups.
Die Rahmenbedingungen des OPEN FLAIRS sind ungewöhnlich gegenüber denen anderer Festivals. Statt abseits im Nirgendwo, befinden sich Zeltplätze und Festivalgelände über die Stadt verstreut, in der der Alltagstrott zwar weitergeht, vom bunten Treiben jedoch aufgebrochen wird. Auf mittlerweile acht Bühnen, davon zwei gegenüberliegende Wechselbühnen auf dem Werdchen, die von Freitags bis Sonntags bespielt werden, gibt es Unterhaltung in unterschiedlicher Form. Die unweit am Werratalsee gelege Seebühne, die von Mittwoch bis Samstag musikalische Unterhaltung bietet und das vor dem Eingang zum Werdchen befindliche E-Werk als geschlossene Location mit davorliegender Hofbühne fungieren als Bühne für die größeren Acts. Ein Stück weiter hoch in die Stadt befinden sich noch das Kleinkunstzelt und das Weinzelt,vorrangig für Kabarett, Poetry-Slam und lokale Künstler. Ergänzt wird das Spektakel durch den Elektrogarten, die Waldbühne, die Schlossparkbühne diverse Walkacts in der Stadt und auf dem Campingplatz, sowie ein Spielfeld für Kinder, das direkt neben dem Werdchen gelegen ist. Auch gab es dieses Jahr wohl eine geheime Bühne in der Stadt, zu der man Infos über den Standort und die jeweiligen Bands gewinnen konnte. Oder war das lediglich ein hartnäckiges Campingplatzgerücht? Ich war jedenfalls nicht dort.
Wie man es von Festivals gewohnt sein dürfte, startet jeder Tag unter anderen Grundvoraussetzungen: Am Aufbautag wird feuchtfröhlich in den Tag gelebt und erwartungsfroh auf die Woche vorausgeblickt. Am Abreisetag genau umgekehrt voller Demut abgebaut und mit lachendem und weinendem Auge auf die vergangene Woche zurückgeschaut. Aber insbesondere die Tage dazwischen haben alle ihren ganz eigenen Reiz: Mal fiebert man besonders auf den Headliner des Tages hin (mittwochs: MUFF POTTER, sonntags: THE OFFSPRING), mal auf die Bands aus der zweiten Reihe (freitags: FUNNY VAN DANNEN, ZEBRAHEAD, DIE KASSIERER) und mal auf die, die es noch zu entdecken gilt (donnerstags: THE INTERSPHERE, samstags: THE HIRSCH EFFEKT).
Eröffnet wurde das diesjährige FLAIR wie gewohnt auf der Seebühne. Die Ehre hatten die sympathischen Contest-Gewinner RED IVY aus Werne in Westfalen. Mit guter Laune und Alternative Rock sorgten sie für einen gelungenen Auftakt und steigerten die Vorfreude auf alles was noch folgen sollte.
Das waren in meinem Fall THE SUBWAYS, die mit solider Bühnenperformance und ihren beiden Hits „Rock´N´Roll Queen“ und „Oh Yeah“ den Funken einmal mehr nicht so richtig überspringen lassen wollten. Auch RUSSKAJA haben es wieder nicht geschafft mich mit ihrem Crossover aus Rockmusik und Polkabeats zu überzeugen, das Publikum hingegen feierte begeistert als gäbe es kein Halten mehr.
Nach dieser ausgelassenen Party hatten es MUFF POTTER als Abschluss des ersten Tages mit ihren nachdenklichen und intellektuellen Liedern deutlich schwerer das Publikum mitzureißen. Das Gelände vor der Seebühne leerte sich im Verlauf des Konzertes stetig. Für mich immer noch unverständlich. Ähnlich wie beim ausverkauften Konzert in Wiesbaden spielten sie eine tolle Setlist. Vielleicht sind sie in ihren zehn Jahren Abwesenheit doch etwas in Vergessenheit geraten. Für den Höhepunkt am Mittwochabend konnten sie in unserer Runde dennoch sorgen. Die Kultsongs „Take a run at the sun“ und „Wir sitzen so vorm Molotow“ sind heute noch immer so genial wie vor der Bandauflösung 2009. Auch das Highlight-Album „Von wegen“, das die meisten Lieder des Abends beisteuerte, brachten MUFF POTTER stark rüber. Da machten auch einige Verspieler keinen größeren Strich durch die Rechnung.
Der Donnerstag startete für mich erst deutlich später, als um 18 Uhr mit THE INTERSPHERE meine absoluten Neuentdeckung des diesjährigen FLAIRS die Seebühne enterte. Ohne Erwartungshaltung ging ich mal gucken und bin seitdem hin und weg vom progressiven Mix aus Indie, Alternative und Lo-Fi, aus Pop und Härte, den der Vierer von der Mannheimer Popakademie an den Tag legt. Mein Tages- und definitiv eines der Festivalhighlights.
Sowohl die darauffolgenden CITY KIDS FEEL THE BEAT mit ihrem uninspirierten Easycore zwischen A Day To Remember und den kurzfristig abgesprungenen Good Charlotte als auch die nachts den Abschluss bildenden MR. IRISH BASTARD mit solidem Folk-Punk-Konzert konnten da nicht mithalten. Die erwartete Enttäuschung des Tages waren die DONOTS. Der Ansturm vor die Bühne war absehbar riesig, da lediglich im Elektrogarten etwas vom Publikumsandrang abgefedert wurde. Dieses feierte bis in die letzten Reihen mit Circle Pits und Pogotanz. Ich bin der DONOTS mittlerweile wohl einfach überdrüssig. Ihre deutschsprachigen Alben sind überhaupt nicht mein Fall, als Klassiker gelten auf Konzerten mittlerweile schon alle Lieder ab „Coma Chameleon“. „Saccharine Smile“ war der stärkste Song des Abends, nach dem ich mit den DONOTS endgültig abgeschlossen habe und mich weiter augenzwinkernd fragen werde: „Whatever happened to the Donots?“
Meinen Freitag eröffneten OF MICE & MEN auf der Hauptbühne auf dem Werdchen. Der energiegeladene Post-Hardcore/Metalcore/Nu Metal der US-Amerikaner riss von Beginn an mit und die Moshpits stellten alles bis dahin dagewesene in den Schatten. Unter anderem mit Liedern vom bald erscheinenden Album Earthandsky brachten sie bereits in der Mittagssonne den Festplatz zum Beben. Nach einer ausgedehnten Pause ging es dann mit NOTHING BUT THIEVES erneut vor die große Bühne. Mit völlig falschen Erwartungen einer Metalcore-Band war ich trotzdem hingerissen von Conor Masons Vibrato-Stimme kombiniert mit schwerer Rockmusik. Ihre Musik entwickelt eine Dynamik, die die oberflächlich betrachtet unpassende T-Shirt-Wahl der Bandmitglieder vor allem über die Emotionalität der Musik erklären.
Auf der gegenüberliegenden Freibühne folgte dann mit WINGENFELDER ein Highlight für die Nostalgiker der älteren Generation: Die beiden Fury in the Slaughterhouse-Gründungsmitglieder Kai und Thorsten Wingenfelder konnten ein beachtliches Publikum begeistern. Besonderer Stimmungshöhepunkt: Der Fury-Hit „Time to wonder“. Auf WINGENFELDER folgten MADSEN, auf die Sonne folgte der Dauerregen. Trotz Nässe blieb das Gelände jedoch prall gefüllt, um dem spontanen Good Charlotte-Ersatz die Ehre zu erweisen. Für mich im Vorfeld eine enttäuschender Entschädigung (musikalischer Geschmack außen vor, waren MADSEN seit 2013 nur zweimal weniger beim Flair als ich, Good Charlotte hingegen in dieser Zeit noch nie). Dennoch nahm ich die Band mit dem gleichen Augenzwinkern hin, wie sie es mit ihrem Füller-Slot taten: Unter vielen Teasern großer Rocksongs („1000 und 1 Nacht“, „Smoke on the water“, Seven Nation Army“, „Basket Case“) fand sich mit einem Cover von „Lifestyle of the rich and the famous“ auch eine Hommage an die enttäuschten Good Charlotte-Fans. Mit deutlich mehr Biss und Pepp als auf Platte konnten MADSEN mich besonders mit meinen Jugendklassikern „Du schreibst Geschichte“ und „Die Perfektion“ doch wieder auf ihre Seite ziehen und den Regen für alle vergessen machen.
Danach wurde es mit dem Liedermacher FUNNY VAN DANNEN deutlich ruhiger. Wer jedoch bei schlechtem Wetter die Flucht in den halbwegs regengeschützten Baumkreis suchte, wurde mit Chuzpe und Satire belohnt. Besondere Bekanntheit auch bei jüngeren Zuhörern wie mir dürfte FUNNY VAN DANNEN durch seine Kooperation mit den am Folgetag spielenden TOTEN HOSEN haben, auf deren Label er auch veröffentlicht. Eins der Highlights war demnach sicherlich für viele seine Originalversion von „Lesbische, schwarze Behinderte“, das DIE TOTEN HOSEN auf ihrem Album Unsterblich coverten, zu dem VAN DANNEN auch „Schön sein“ und „Bayern“ beisteuerte. Nach FUNNY VAN DANNEN wurde der Andrang auf das Werdchen zu den FANTASTISCHEN VIER wieder größer, Zeit also für mich und meine Mitstreiter an die Seebühne zu wechseln, um uns lieber ZEBRAHEAD anzugucken. Die alten Punkrock-Haudegen sind eine dieser Bands, die ich zu Hause nie höre, die mir aber live immer wahre Freude bereiten. Eine super Brücke also, um sich auf die DIE KASSIERER einzustimmen.
Gemeinhin gilt ihre Musik als Punkrock, der provokante Charakter der absichtlich schlechten Musik und von asozialem Primitivismus geprägten Lyrik der Lieder erzeugt jedoch nicht nur bei post-pubertären Zuhörern ein Grinsen. DIE KASSIERER als talentlose Proleten abzustempeln ist ein Kurzschlussgedanke. Das sollte in den letzten 34 Jahren auch noch dem Letzten bewusst geworden sein, der sich mit ihnen genauer beschäftigt. Vielmehr als das vorangegangene straighte Punkrock-Konzert von ZEBRAHEAD sind DIE KASSIERER ein Kabarett der Geschmacklosigkeiten, das man nicht mögen muss, hinter dem jedoch mehr philosophischer Charakter und Zeitgeist-Satire zu finden ist, als die Oberfläche erahnen lässt. Ein genialer Tagesabschluss, auch wenn das, geprägt auch durch den wiedererstarkten Regen, nicht jeder so gesehen haben wird.
Den Anfang am Samstag machten SONDASCHULE, nach den MONSTERS OF LIEDERMACHING wohl DIE Band, die eine besondere Verbindung zum FLAIR hat. War ich 2013 noch überrascht, ob des enormen Zuspruchs für die Ska-Punks aus dem Pott, verstand ich in den Folgejahren die enge Verbindung zwischen Band und FLAIR-Publikum: Band und Festival stehen im Grunde für das gleiche ein, beide vertreten die gleichen Werte und tragen sie verbunden mit guter Laune und Party in die Welt. Entsprechend immens war auch diesmal wieder der Andrang, alles trotz des 14 Uhr-Slots. Bei wieder gutem Wetter war die gute Laune vorprogrammiert. Zu Hits wie „Dumm aber glücklich“ und „Hängematte“ oder modernen Klassikern wie „Bist du glücklich“ wurde ausgelassen in den Tag gestartet. SONDASCHULE macht einfach immer Spaß, egal zu welcher Uhrzeit, auf welcher Bühne des FLAIR, egal bei welchem Wetter. Einen ebenfalls denkwürdigen Abriss feierten die Briten ENTER SHIKARI. Die Trancecore-Pioniere haben sich zwar musikalisch von dem wegbewegt, was mir an ihnen immer gut gefallen hat, aber besonders Sänger Rou Reynolds der seine eigene Musik wie ein Verrückter feiert und dabei dank Funkmikro alle Register zieht (vom Crowdsurfen bis zum Besteigen des FOH) reißt mit. In futuristischen Outfits zeigten sie sich gewohnt gesellschaftskritisch.
Die sträflich schlecht besuchten THE HIRSCH EFFEKT ließen sich auf der Seebühne nicht davon beirren, dass sowohl ihr Artcore kein Publikumsmagnet ist, als auch die eigentlich gute Uhrzeit (21.15 Uhr – 22.15 Uhr) einem Lückenfüller geschuldet war. 15 Minuten nach ihrem Konzertende sollten auf dem Werdchen bereits DIE TOTEN HOSEN auftreten, die wohl kaum einer verpassen wollte. Schade, denn THE HIRSCH EFFEKT lieferten neben komplexer Musik auch eine geniale Bühnenshow. Durch den frühen Andrang auf das Werdchen schafften sogar wir den Bühnenwechsel in den gerade einmal 15 Minuten rechtzeitig zum Beginn der TOTEN HOSEN. Das Gelände war bis zum letzten Rand gefüllt, FRITTENBUDE als Seebühnen-Puffer haben wohl parallel nicht so gut funktioniert. Überraschend positiv mit Liedern wie „Liebeslied“ und „Madelaine“ gestartet, flachte das Konzert stetig weiter in die erwartete Enttäuschung ab. Der pappige Sound reichte nicht einmal richtig bis ans Ende des Geländes, ob die Bigshow-Bühne noch Punkrock ist muss jeder für sich selbst entscheiden. Das Publikum zeichnete sich definitiv den „Tagen wie diesen“ positiv zugewandt. Ähnlich wie bei den DONOTS habe ich hier meinen Frieden mit meiner ehemaligen Lieblingsband geschlossen, die seit „Ballast der Republik“ halt ein neues Publikum gefunden hat und dem Versuch alle ihre Fans zu bedienen nicht wirklich gerecht wird. Nach den TOTEN HOSEN ging es dann noch zu den leider sehr durchschnittlichen BEYOND THE BLACK. Sie wirkten wie eine Casting-Band, deren Session-Musiker um Sängerin Jennifer Haben herum aufgestellt wurden (nicht umsonst wurde in gerade einmal 5-jähriger Bandgeschichte bereits an jedem Instrument ein Mitglied ausgetauscht). Den Höhepunkt dieses Eindrucks brachte dann noch das Unwissen von Haben, die bei gerade einmal drei veröffentlichten Studioalben ein Lied der falschen Platte zuordnete. Ansonsten gab es musikalisch soliden und radiotauglichen Symphonic Metal mit Popstar-Attitüden.
Der Sonntag begann ähnlich durchwachsen mit ZSK, bei deren mäßiger Performance das durchs Publikum rangierte, über die Woche hinweg beschriftete „Längste antirassistische Banner“ jegliches Interesse von der Bühne ablenkte. Zur Prime-Time ging es dann für mich erst weiter mit gekonntem Tages-und Festivalabschluss. BULLET FOR MY VALENTINE überzeugten mit knallender Bühnenshow und coolen Songs das noch durchwachsene Publikum im Nieselregen. Die aufeinanderfolgenden „Scream Aim Fire“ und „Tears don´t fall“ ballerten krawallartig aus den Boxen. Auf der Freibühne sorgten dann ADAM ANGST für das Zwischenspiel vor den ersehnten THE OFFSPRING, die den krönenden Abschlussheadliner mimten.
Hit an Hit an Hit gereiht brachten sie das Werdchen ein letztes Mal zum Toben. Hervorstach bei ihrem Auftritt die Pianoballade „Gone away“, für die extra ein Klavier auf die Bühne geholt wurde. Einziger Wermutstropfen wie bei jedem Konzert der Kalifornier war die Länge von gerade einmal 70 Minuten. Entgegen der Behauptung von Lead-Gitarrist Noodles „We don´t want this night to end“ beendeten sie sie einmal mehr frühzeitig. In diesen 70 Minuten hingegen überzeugten sie auf ganzer Linie, verspielten sich weniger als auf ihren letzten Konzerten und zeigten sich auch gesanglich wiedererstarkt. Mit einem Song vom bevorstehenden neuen Album und dem AC/DC-Cover „Whole lotta Rosie“ gab es noch zwei weitere sensibel gewählte Schmankerl auf die Ohren. Insgesamt ein gelungener Abschluss für ein wieder mal gelungenes Festival.
Denn auch wenn die großen Acts beim OPEN FLAIR nicht immer überzeugen und der Vorteil des musikalischen Hybrids bei der Bandauswahl besser ausgespielt werden könnte, so scheint im Booking ein gutes Händchen vorhanden, den Musikdurst auch abseits der beliebten Partybands mit kleinen Highlights zu stillen. Dadurch wurde trotz vorheriger Skepsis ob des Line-Ups das verflixte siebte Jahr einmal mehr zu einem wahren Festivalhighlight. Um den Abschluss kurz zu fassen: OPEN FLAIR, wir sehen uns wieder!
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