Schicksalsalben unseres Teams: Deep Purple retteten Jörg vor dem Schlager

In den letzten Jahren haben wir unseren Lesern kurz vor Jahresende hintergründige Einblick in unser Team gegönnt, indem wir uns gegenseitig interviewt haben.
Irgendwann sind die wichtigen Dinge gesagt und weitere Interviews untereinander liefen in Gefahr, unsere Leserschaft zu langweilen.

Deshalb haben wir dieses Jahr in der Vorweihnachtszeit beschlossen, Euch unter dem Titel Schicksalsalben zu zeigen, welche Alben uns derart stark beeinflusst haben, dass unser weiterer Weg im Bereich Hard ‚n‘ Heavy fortlaufen musste.

 

Aus der Chefetage berichtet Jörg, wie ihn Deep Purple mit dem Album „In Rock“ vor dem Schlager gerettet haben.

Als ich 1960 im ländlichen oberbergischen Waldbröl das Licht der Welt erblickte, war es um die heimatliche Beschallung schlecht bestellt. Meine konservativen Eltern konfrontierten mich mit deutschem Schlager und leider nicht mit der Musik von den Stones oder den Beatles.
So verfolgte ich notgedrungen mehr als zehn Jahre diesen musikalischen Irrpfad, bis ich eines Tages im örtlichen Plattengeschäft im Fenster eine LP hängen sah, die sich sofort in meinem Hirnstamm festbrannte.

Dem Mount Rushmore National Memorial nachempfunden prangten fünf langhaarige Typen auf dem Cover – mein Vater nannte diese Geschöpfe „Gammler“ – und schienen mich wahrlich zu hypnotisieren.
Deep Purple hieß die Band, und das Album war treffend „In Rock“ betitelt.
Das Phänomen, dass mich Plattencover zum Kauf animierten, ohne etwas von der Musik vorher gehört zu haben, sollte in den Achtzigern ein verlässlicher Kompass für das Entdecken genialer Musik werden.
Und so kam ich mit mir darüber überein, mir dieses wunderschön aussehende Scheibchen zum kurz bevorstehenden Weihnachtsfest zu wünschen.

Meine Eltern wähnten mich sicher im Bann von Chris Roberts, Cindy und Bert und Heino, als sie „In Rock“ unter den Weihnachtsbaum legten.
Dass der Schuss für meine Erzeuger nach hinten losgehen sollte, war für sie mehr als unwahrscheinlich; welch ein folgenschwerer Irrtum.

Ich zog mich mit dem Scheibchen unverzüglich auf mein Zimmer zurück, wo mein Mono Schallplattenspieler auf Deep Purple und mich wartete.
Lautstärkeregler präventiv auf Maximum gestellt und dann die Nadel in zittriger Erwartung aufgelegt.

Heute weiß ich, dass Deep Purple mit „In Rock“ ihrer Zeit Jahrzehnte voraus waren. Damals – ich bekam das Teil mit zweijähriger Verspätung erst 1972 – blies mich die Musik einfach nur weg.
So etwas hatte ich vorher nie zu hören bekommen, und auch nach fast 50 Jahren ist der Effekt noch genauso, wie damals.

Die Produktion war überragend und hält auch heute noch jeglichen Vergleichen stand. Klar, druckvoll und genau auf den Punkt.
Heute weiß ich, dass sich die Briten mit der Auswahl der Tracks (und von den einzelnen Songs gab es jede Menge unterschiedlicher Versionen) einen Sechser im Lotto verschafft hatten.

Der Opener „Speed King“ hat eine Urgewalt, die erst Jahrzehnte später von anderen Bands ähnlich druckvoll nachempfunden wurde.
1970 schafften es Deep Purple, jedem einzelnen Instrument den optimalen Raum zu geben, um ein Meisterwerk zu schaffen.
Nie wieder würde Jon Lords Hammondorgel so druckvoll brillieren, nie wieder Ritchies Gitarre dominierend auf Augenhöhe mit dem Tastenzauberer um die Wette battlen.
Nie wieder eine Rhythmus Fraktion mit so fetten Drums und druckvollem Bassspiel.
Und über allem mit Ian Gillan ein Sänger, der den Songs Worte verlieh, die unerreicht wie ein Orkan die Welt geschossen wurden.
Allein „Speed King“ dudelte ich damals immer wieder runter, bis ich auch dem Rest der Scheibe eine Chance gab, und den anderen Songs lauschte.

„Bloodsucker“ wurde später mein favorisierter Song, weil Ian Gillan so genial schrie und den scheinbar ultraschnellen Song zur Masterperle unter den Perlen machte.
Glücklicherweise hatte ich (erst) 2017 die Freude, „Bloodsucker“ auch endlich live präsentiert zu bekommen. Ohne Ritchie Blackmore an der Gitarre, aber mit einem erstaunlich präzise singenden Ian Gillan, nahm ich das Stück als Geschenk.

Auf LPs war und ist eine optimale Spielzeit mit ca 15 Minuten arg begrenzt, so dass auf der ersten Seite als drittes und letztes Stück das 10-minütige „Child In Time“ die Seite beendete.
Damals war „Child In Time“ für mich das schlechteste Stück des Albums. Warum? Weil es eine Ballade war, und ich Balladen kategorisch ablehnte. Irgendwann musste ich mir allerdings eingestehen, dass, sofern „Child In Time“ überhaupt als Ballade einzuordnen war, diese aber so heavy war, dass ich meine Einstellung zu Balladen schnell änderte.
Zu späteren Zeiten war es dann gerade dieses Stück, was – dank CD – mit der Repeat Taste permanent bei mir lief.
Dass Ian Gillan eines Tages diese Urgewalt stimmlich nicht mehr hinbekommen würde, war absehbar, aber für mich Dank des Bannens auf Vinyl durchaus verkraftbar.
Und tatsächlich habe ich live recht miserable Versuche Gillans erlebt, als er gegen den Song eindeutig verlor. So zum Beispiel 2003 auf dem Bonner Konzert auf der Museumsmeile. Seltsamerweise verbesserte sich seine stimmliche Situation später wieder, so dass er zwar nicht an die Qualität von 1970 herankam, allerdings deutlich besser sang als Jahre zuvor, und sich damit die Latte gleich selber wieder sehr hochlegte.

Damit war denn auch die erste Seite des Albums abgefrühstückt. Seite 2 zeigte dann eine etwas rauere, ungeschliffenere Seite der Band. „Flight Of The Rat, „Into The Fire“ (ein absolut geiler Stampfer), “Living Wreck” und “Hard Lovin’ Man” waren kompositorisch eher an die Vorgängeralben angelehnt. Durch die druckvolle Produktion und die Brillanz der einzelnen Musiker – inzwischen war auch das Micro von  Rod Evans an Ian Gillan übergeben worden – aber meilenweit entfernt von „Book Of Taliesyn“ Oder „Shades of Deep Purple“.

Deep Purple hatten bereits damals so viele unterschiedliche Stilelemente in Ihrer Musik vereint, die erst viel viel später von Metal Bands aufgegriffen werden sollten.
Meiner Meinung nach gab es in den Siebzigern nicht ein einziges vergleichbares Album.
Und obwohl Purple ihren künstlerischen und kommerziellen Höhepunkt erst Jahre später erreichen sollten und unerreichte Songs schrieben, mit „Smoke On The Water“ DEN Song überhaupt schufen, ist „In Rock“ in seiner Gesamtheit mein persönlicher Favorit.

Als Jahre später, im Jahr 1995, zum 25. Geburtstag der Hammerplatte eine Anniversary Version mit vielen Bonustracks veröffentlicht wurde, stellte sich erst heraus, wie genial das Original wirklich war. Alle alternativen Versionen von „Speed King“, durchs Raster gefallene Songs sowie den nur als Single veröffentlichten Hit „Black Night“ hatten seinerzeit nicht die Berechtigung, auf dem Album zu erscheinen. So, und nur so, wie „In Rock“ 1970 veröffentlicht wurde, gereichte es zur historischen Brillanz.

„In Rock“ war damit für mich fortan der Wegweiser durch musikalische Wirren, Stromschnellen und Irrwegen.
Ich lernte die softeren Radiobands wie Alice Cooper, Slade oder Sweet für mich zu gewinnen und erschreckte meine Mitschüler nicht selten mit seltsamen Veröffentlichungen, die bis zum heutigen Tag mit Berechtigung in meinem Plattenschrank stehen: UFO, Uriah Heep, Thin Lizzy, Grand Funk Railroad, Ten Years After.
Dass eines Tages Kiss zu meinen Faves gehören würden, war genetisch und evolutiv im Grunde gesetzt.
Und dass dann auf einmal eine Musikrichtung aufpoppte, die Heavy Metal genannt wurde, war für mich ein Segen.

Ich bin mir sicher, dass mein Leben ganz anders verlaufen wäre, wenn meine Eltern nicht den vermeintlichen Fehler begangen hätten, als sie mir Deep Purple „In Rock“ unter den Weihnachtsbaum legten. Dankbar bin ich ihnen dafür aber allemal!!

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